Oettingers Restaurant*, Fellbach - Hinterm Kesselrand geht's weiter

Veröffentlicht am: 21.11.2023


Das Sternedorf Fellbach bei Stuttgart mit ehemals 3 ansässigen Sternerestaurants mit insgesamt 4 MICHELIN-Sternen hat in den letzten zwei Jahren eine deutliche Zäsur erfahren. Nach der Schließung des Restaurants Goldberg** und Achim Karrers' Avui* ist noch ein (besternter) kulinarischer Hochkaräter übrig:

Oettingers Restaurant* im Hotel Hirsch. Eine regionale Institution und Einsterner alter Schule mit französisch inspirierter Küche und regionalem Einschlag, welcher zukünftig etwas mehr „über den Kesselrand“ schauen möchte. Küchenchef und Inhaber Michael Oettinger hat daher nach 18 Jahren beschlossen, das Küchenzepter an den 34-jährigen Kay Lurz weiterzureichen, welcher in der Region kein Unbekannter ist. Oettinger selbst bleibt dem Restaurant erhalten und wird sich zukünftig umfassender um die Kulinarik des Unternehmens zu können. Für uns schon jetzt die spannendste gastronomischen Neuigkeit in diesem Jahr. Wir haben zusammen mit Kay Lurz „ÜBER DEN KESSELRAND“ geblickt. Hier ist unser Erfahrungsbericht.

Außenansicht (Fotocredit: Hirsch, Fellbach)

Dass Tradition Wandel bedeutet und die Erkenntnis darüber alleine nicht ausreicht, hat Michael Oettinger in diesem Jahr zur Maxime gemacht. Nach 18 Jahren am Herd des Gourmetrestaurants seiner Gastrowelt, welche u.a. aus dem Hotel Hirsch, der Weinstube Im Schnitzbiegel, und der Tagungs- und Eventlocation Lehenhof besteht, hat der 45-Jährige das Küchenzepter seines Flaggschiff-Restaurants (1 MICHELIN-Stern seit 2016) weitergeben, um sich zukünftig umfassender um die Kulinarik des Unternehmens zu können. Das Fellbacher Traditionshaus war vor circa 50 Jahren aus einer Metzgerei entstanden.

Kay Lurz heißt der neue kulinarische Reiseleiter des Restaurants und ist kein Unbekannter in der Region. Lurz kochte an der Seite von Nico Burkhardt im Hotel-Restaurant Pfauen in Schorndorf, war Küchenchef in Burckhardts Schorndorfer Brasserie Chez Amis. Seine Wanderjahre führten Ihn u.a. in DIE INSEL* nach Hannover oder ins Ophelia** nach Konstanz, aber auch als Küchenchef in das gehobene Sushi- & Steak-Restaurant Umami, auf die AIDA Diva, oder ins Bistro Anders auf dem Turmberg in Heidelberg. Von französischer Sterneküche, über Brasserie und Bistronomy zu Sushi. Aus einer solch fundierten und facettenreicher Küchenerfahrung lässt sich definitiv eine eigene Handschrift ableiten

Gastraum

Das Fellbacher Traditionshaus mit liebevoll arrangierten Blumenkästen und cremeweißer Fassade im Fellbacher Teilort Schmiden ziert liebevoll das Straßenbild.

Der Gastraum ist geschmackvoll und edel eingerichtet und strahlt durch seine Holzvertäflung viel Wärme aus. Ein wohliger Gegensatz zu inflationär gewordenen Grau- und Brauntonabstufungen.

Tischblumen und ein goldener Blickfang in der Mitte der Raumrückwand, in Form eines kreisförmiges Flitter-Dekors, setzen geschickte optische Farbakzente und sorgen für eine wohlig warme Atmosphäre.

 

Im Zentrum der Speisekarte steht das Kay Lurz Signature Menü „Über den Kesselrand“ (4-8 Gänge / € 109,-- - € 183,--), welches sich bereits spannend liest und mit Begriffen, wie XO oder Vadouvan schon deutlich zeigt, wie weit der Blick über den Kesselrand geht. Zutaten wie Sanddorn oder Molke richten den Kompass in nördliche Gefilde aus. Sehr spannend. Auf der rechten Seite der Karte finde sich noch einige Klassiker des Hauses unter der Überschrift „Oettingers Kapitel“. Hier kann man sich hemmungslos durch kulinarische Evergreens Bouillabaisse, Wildfang-Steinbutt mit Beurre Blanc oder sautiertes Kalbsbries essen. Letzteres wählen wir (aus innerer Sehnsucht) dazu und natürlich die volle Kay Lurz-Reise. Wir sind gespannt.

 

steckbrief Kay lurz

geb. am 22.06.1989 in Treuchtlingen (aufgewachsen in Mittelfranken)

2004 - 2007: Ausbildung zum Koch im Seebauerhotel Gut Wilbad, Wemding

Stationen (Auszug):

Restaurant "Die Insel"*

Restaurant Memory, Hamburg (16 Punkte GM)

Restaurant Rossini auf der AIDA Diva

Anders auf dem Turmberg*, Karlsruhe

Restaurant Ophelia**, Konstanz

Gourmetrestaurant Nico Burkhard*, Schorndorf

seit 2023: Küchenchef, Oettingers Restaurant*, Fellbach



Apéros

Hirschschinken & - essenz

Sein Signature-Menü trägt daher auch den treffenden Titel Über den Kesselrand. Hier schlägt Lurz einen beachtlichen Spagat zwischen französischer Klassik und modernen Einflüssen – von New Nordic Cuisine bis asiatisch. Dies demonstriert der neue Küchenchef schon eindrucksvoll bei den Küchengrüßen. Hier serviert die Küche eine Croustade mit klassisch abgeschmecktem Rindertartar, geräucherter Eigelbcreme und Imperial Kaviar, aber auch gebackene (in Bier und Senf marinierte) Senfkohl-Stiele mit einer säuerlich-frisch abgeschmeckten Renekloden-Mayonnaise. Dazwischen eine Brandade vom frischen Kabeljau, mit Guadeloupe Melone und Tomatengel. Auf dem Fuß folgen noch ein Streifen hervorragender Hirschschinken und eine heiße, kristallklare Hirschessenz. Mit dem beeindruckenden Repertoire und exzellentem Handwerk setzt man hier bereits ein deutliches Ausrufezeichen. Man darf hier viel erwarten.

Herbstsalat - Steinpilze - Sonnenblume - Molke

Gänseleber - Quitte - Lavendel - geräucherte weiße Schokolade

Auch bei den ersten zwei Gängen setzt Kay Lurz auf dieses Muster, indem er sich, mit breiter Farbpalette, stilistisch zwischen New Nordic und Haute Cuisine bewegt. Als offiziell ersten Gang serviert die Küche einen Herbstsalat, welcher mit fleischigen Steinpilzen, Bitternoten und einer elegantem Molke-Vinaigrette, welche Lurz aus Schwedenmilch zieht und mit Tonic, Champagner-Essig und Zitrusnoten noch einen besonderen Frischekick verleiht. Man könnte auch sagen: ein Salat im Gin-Fizz Stil, welcher nicht nur ordentlich die Geschmacksknospen wachrüttelt, sondern auch kulinarisch eine große Freude ist.

Wohingegen er Im zweiten Gang eine kulinarische Kehrtwende vollzieht und eine handwerklich verblüffende Gänseleber-Variation mit Quitte, Lavendel und geräucherter, weißer Schokolade abliefert. Dabei sticht nicht nur das exzellente Handwerk der Gänseleber-Terrine, sondern auch das elegante und exakte Austarieren von säuerlicher Quitte mit dem süßen Eis von der geräucherten Schokolade, hervor. Trotz des breit ausgerichteten Kompasses bewegt sich Lurz mit verblüffender Perfektion zwischen den Welten und setzt weitere dicke Ausrufezeichen hinsichtlich seiner kulinarischen Wandelfähigkeit und handwerklicher Perfektion irgendwo zwischen Kopenhagen und Paris. Wir sind beindruckt und entzückt.

Muscheln³ - Artischocke - Fenchel - Petersilie

Nach diesem beeindruckenden Kontrastprogramm beruhigt der nächste Gang auf elegante Art und Weiße unsere Gemüter. Er trägt die schlichte Überschrift Muscheln hoch 3.

Frisch und Leichtfüßig baut Kay Lurz eine Straße aus dreierlei Muscheln (in der Schale pochierte, wachsweiche Auster, Schwertmuschel und Miesmuscheln) Fenchel, Poweraden, Strandkräutern (Oyster Leafs, Algen und Passe Pierre) und verbindet die Mélange mit einer cremig schmelzigen Petersilien-Mayonnaise. Am Tisch vollendet er das Ganze mit einer frischen Vinaigrette mit feinen Wurzelgemüse-Brunoise. Wir heben die Augenbrauen angesichts des Wohlgeschmacks und der Unkonventionalität des Gerichts. Das Gericht ist die grandiose Umsetzung eines kulinarischen Strandspaziergangs im September mit salzigen Briesen, feiner Erdigkeit und wohltuender Frische. Der dritte Gang und das dritte dicke Ausrufezeichen. 

Kürbis - Vadouvan - Sanddorn

Jetzt nimmt Lurz etwas das Gas raus und bringt dem, mittels Frische zurückgepolten, Gaumen einen eher puristischen Herbstakkord. Hierzu präsentiert Lurz eine akkurat aufgewickelte, bissfest gegarte Rolle von Butternut- und Hokkaido-Kürbis, welche mit tomatisierter Nussbutter arrondiert und anschließend leicht gratiniert wurde und mit einer Art Pesto aus den Kürbiskernen und gepickelten Dillblüten serviert wird. Aromatisches Rückgrate des Gerichts ist eine feinsäuerliche Sanddorn-Vadouvan-Vinaigrette, die dem eher neutralen Gemüse die notwendige Spannung bringt. Das funktioniert auch hervorragend und ist mit Abstand der bisher unaufgeregteste Gang des Abends. Wir nehmen das kurze Verschnaufangebot gerne an. Denn schon im nächsten Gang wird es merklich intensiver und die Aromen dunkler.

Zander - XO - Mandel

Den Zander im darauffolgenden Gang brät er scharf an und nappiert ihn lediglich mit einer intensiven XO-Sauce, welcher mit knackigen Rauchmandeln und intensiv ätherischer Salzzitrone noch mehr Geschmackstiefe verliehen wird. Ein Tupfen hervorragend seidig, süßlich-nussige Mandelcreme und gepickelte Rettich-Schleifen runden das ganze nochmal ab und steuern fettigen Schmelz und etwas Säure bei. Das ist eine beindruckende Demonstration von Reduktion und Reife.

Haus-Klassiker aus Oettingers-Kapitel: Kalbsbries sautiert - Kutteln - Roscoff Zwiebel - Böhmischer Knödel- Topinambur

Einen Klassiker von Michael Oettinger haben wir uns natürlich nicht nehmen lassen. Außerhalb des Menüs bestellen wir daher noch das sautierte Kalbsbries mit sauren Kutteln, Roscoff-Zwiebel, Böhmischem Knödel, welcher dem Türmchen als Basis dient, und Topinambur. Umami, Essigsäure, Hitze und ein wunderbar zartes Kalbsbries machen dieses Gericht nicht umsonst zu einem Evergreen-Klassiker des Hauses. Allein die Möglichkeit solche Gerichte hinzuzubestellen finden wir zudem phänomenal.

US-Shortrib - Pastinake - Perlzwiebel - Herbsttrompeten - Walnuss

Auch dem Hauptgang verleiht Lurz seinen eigenen Twist, belässt ihn aber in absolutem Wohlfühl-Terroir. Das behutsam geschmorte, butterzarte US-Beef Short-Rip lackiert er mit Jus und nappiert den akkuraten Quader anschließend mit Birnen-Scheiben (von der lokalen Sorte Gaishirtle) und gerösteten Walnuss-Stücken. Hinzu gibt er lediglich abgeflämmte Perlzwiebeln, jeweils eine Nocke von Pastinaken-Püree und ein „Kompott“ aus gehackten hocharomatischen, mit Madeira abgeschmeckten, Herbsttrompeten. Ein handwerklich und geschmacklich hervorragender Jus wird am Platz behutsam angegossen. Die Beilagen dienen dabei als hervorragende Condiments, um das hervorragende Fleisch zu unterstützen. Mehr ist es nicht und will es auch nicht sein. Hier wird das Wesentliche zelebriert.

Was uns besonders freut, und (häufig aus angeführten Proportionierungsgründen) nur noch selten praktiziert wird, ist das am Tisch belassene Soßenkännchen mit dem vorzüglich und präzise abgeschmeckten intensiven Jus. Auch dieses wird restlos entleert. Hervorragend einfach und einfach hervorragend.

Brie de Meaux fermier - Mohn - Staudensellerie - Haferwurzel

Die weltbekannte Brie-Sorte Brie de Meaux steht im Fokus des darauffolgende Käsegangs. Lurz füllt sie nach Art des Brie aux Truffles mit Miso und Blaumohn, was ihm stimmig intensive, nussig, umamireiche Schicht verleiht. Als Kondiments wählt er einen kleinen Staudenselleriesalat und ein süßlich nussiges Haferwurzeleis. Das ist schön unkonventionell und sorgt zudem für eine kleine, sehr willkommene Abkühlung und etwas Frische, welche wunderbar mit dem fettig-schmelzigen Käse harmoniert. Sehr schön.

Mirabelle - Haselnuss - Thymian - Karamell

Auch süße Desserts beherrscht die Küche hervorragend und dreht mit der Kombination aus Mirabellen, Thymian und Karamell nochmal kräftig am Wohlfühl-Regler. Hierfür dient als Podest eine Mousse aus Dulcey-Schokolade, welches mit Karamell-Gel, marinierten Mirabellen, karamellisierten Haselnüssen, Schokoladenkiesel mit feiner Thymiannote, einer Nocke Mirabellen-Sorbet und Baiser-Stäben mit getrocknetem Thymian belegt wurde. Vollendet wird das Dessert am Tisch mit einem Schwarztee-Kombucha mit Thymiansirup und Haselnussöl. Wofür man als Schreiber eigentlich einen Absatz einlegen müsste, ist die Kombination für den Esser so zugänglich wie ein Karamellschokoriegel – nur ohne dessen Banalität. Das Dessert geht direkt ins Herz und ist aromatisch hochspannend, da Karamell- und Nussnoten einen hervorragenden Kontrast zur süß-säuerlichen Mirabelle bieten und der Thymian dem ganzen gewissermaßen einen würzigen Bogen verleiht. Wir lehnen uns entspannt zurück. Das war großes Kino.

Mignardises

Wirklich ausgezeichnete, handgemachte Mignardises von Béatrice Oettinger beenden ein Menü, welches schon jetzt die ausgeprägte Handschrift des neuen Küchenchefs trägt. Lurz besinnt sich auf das Wesentliche, tolle Produktqualitäten und greift virtuos und grenzenlos zu Pairings-Partnern und Zubereitungstechniken vom Remstal bis Japan. Dieser Blick über den Teller… (pardon) Kesselrand in Verbindung mit der raffiniert platzierten Reduktion, formt definitiv einer der spannendsten Küchenstile der Region. Wir sind gespannt, wie weit Kay Lurz seine Küche über den Stuttgarter Kessel hinausträgt. Für uns gehört das Restaurant bereits jetzt in Gespräche weit über seine beschauliche Umgebung hinaus. Gute Nacht und sicherlich bis bald.


Alkoholische Getränkebegleitung

Unsere Weine an diesem Abend - hervorragend und passend ausgewählt

Team

Kay Lurz (4. v. links), Michael Oettinger (1. v. rechts) mit Team


Fazit

Kay Lurz‘ Küchenstil oszilliert beeindruckend zwischen den verschiedenen kulinarischen Welten. Sein Blick über den Kesselrand bescherte uns eines der spannendsten Menüs des Jahres. Auch Traditionalisten werden mit Michael Oettingers Klassikern auf ihre Kosten kommen. Wir sind gespannt, wohin hier die Reise geht.

Absolute Reservierungsempfehlung!


weitere informationen

Adresse: Oettingers Restaurant
 

im Hotel Hirsch

  Kanalstraße 1-7
70736 Fellbach-Schmiden
   
Homepage: https://www.hirsch-fellbach.de/oettingers-restaurant/
   
Öffnungszeiten: Mittwoch - Samstag: 18:00 - 21:00 h / Samstag 12:00 - 14:00 h
   
Chef de Cuisine: Kay Lurz / Patron: Michael Oettinger
   
Datum des Besuchs: 22.09.2023
   
Besuchskonditionen: Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt
   
Kosten:  4 - 8 Gänge (€ 109,--  - € 183,--) // 4 Gang Veggie ( € 100,--)
   Weinbegleitung (€ 42,-- - € 74,--)
   
Auszeichnungen: 1 Stern (Guide Michelin 2023)
  2 rote Hauben (Gault Millau 2023)
  3,5 Hauben (Großer Guide 2023)
   
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